Der Falter 04/2022

Editorial Tradition im Herzen. Zukunft im Blick. www.sparkasse-mainfranken.de/200jahre Sparkasse Mainfranken Würzburg Liebe Leserinnen und Leser, auch ich kam einst als Flüchtling auf abenteuerlich-gefährliche Weise in die Bun- desrepublik, nicht aus wirtschaftlichen Gründen, sondern weil ich frei denken und arbeiten wollte. Ich musste alles zurückgelassen, Auto,Wohnung, Möbel, tausen- de Bücher, Bilder, das Geld auf dem Konto. An dem Abend, als ich floh, ging ich vorher durch alle Zimmer, goß nochmal die Grünpflanzen, strich über die Bücher, den Schreibtisch, die Bilder, wohl wissend, all das nie wieder zu sehen. Ich heulte. Ich kam im Westen mit nichts an als dem, was ich auf dem Leib trug. Trotz aller ungewohnt bürokratischen Hürden – Registrierung,Anerkennung von Ausbildun- gen usw. – fühlte ich mich fast sofort akzeptiert, angenommen, integriert. Und ich bin ungeheuer dankbar, dass meine Frau und ich hier eine neue Heimat fanden, neue Existenzen gründen, Freunde finden, wieder glücklich werden konnten. Auch deshalb bin ich prinzipiell jedem Flüchtling verbunden, egal, ob er aus Sy- rien oder Afrika zu uns kommt. Ich kann Angst auf der Flucht nachempfinden, Schmerz über verlorene Heimat, Freunde und Familien, auch die Hoffnung, wieder ein neues Leben beginnen zu können. Während ich das schreibe, bauen Bekannte von mir in Kiew Molotowcocktails, alle in meinemAlter, also für den soldatischen Straßenkampf nicht mehr geeignet. Sie haben ihre Familien in Sicherheit geschickt und warten jetzt in teils zerbomb- ten Wohnungen und Häusern auf die anrückenden russischen Panzer. Sie wissen: Nie den Brandsatz auf den ersten Panzer werfen, denn der nächste wird sie dann sofort erschießen.Trotzdem riskieren sie bereitwillig ihr Leben, wenn dafür andere Ukrainer, die Ukraine überhaupt, gerettet werden können. Dieses Stadtmagazin ist in seinem Inhalt teils kein gewohntes, und ich bitte Sie dafür um Ihr Verständnis. Wir erleben Krieg wie seit über 77 Jahren nicht mehr, wir erleben ihn quasi vor unserer Haustür und die Folgen auch in unserer Stadt, unserem Landkreis. Wir können weder wegschauen noch teilnahmslos sein – es sei denn, wir bekennen uns als gleichgültig und herzlos. Ich glaube aber an die Kraft und Solidarität, die wir alle miteinander und hier vor Ort haben können. Ich glaube an unsere gemeinsame Kraft, den Krieg Putins nicht nur von fern zu ertragen, sondern dem entgegen zu treten. Ich schreibe ausdrücklich, dass es Putins Krieg ist, nicht der seines Volkes. Er än- dert also nichts an meinem Verhältnis zu russischen Bekannten, generell Russen hier; außer sie solidarisieren sich ausdrücklich mit diesem barbarischem Krieg Putins, was – mir unverständlich – einige unserer eigenen Landsleute tun. Aller- dings habe ich kaum Hoffnung, dass eine maßgebliche Mehrheit in Russland ihre Stimme gegen diesen Krieg erheben, ihn beenden könnte. Das erinnert an unsere eigene Geschichte: Auch die Deutschen waren mal mehrheitlich ein von ihrem „Führer“ verführtes Volk, dem sie vasallentreu bis in den eigenen Untergang folg- ten; siehe dazu auch der Titelbeitrag. Ich hoffe und glaube an Sie! Ihr Volkmar Röhrig

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