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DER FALTER 09/13
Rokoko
1735-1770
Klassizismus
1770-1830
Historismus
1830-1900
Die Zeit am Anfang des 19. Jahrhunderts
löste den klaren Stil des Klassizismus ab,
und die Menschen sehnten sich nach
längst vergangenen Baustilen zurück: Go-
tik, Romanik, Renaissance und Barock. Die
klassische Pracht war vorbei und Mode
wurden wieder Formen in der Architektur,
die viele Kanten, Ecken, Erker, Türmchen,
verschachtelte Dachflächen und Schmuck-
werk aus vielerlei Materialien zeigte.
Es entwickelten sich die alten Baustile, nur
mit der Vorsilbe „Neu“, oft wild miteinan-
der vermischt. Der Historismus war gebo-
ren, der Architekturstil der Gründerzeit.
Der selbstherrliche Kaiser Napoleon war
entmachtet und vergessen, die Abschaf-
fung des Adels und der Kleinstaaterei
geplant (was nur teilweise gelang), die
1848er Revolution und der deutsch-fran-
zösische Krieg 1870-1871 überstanden.
Der siegreiche Bürger stellte wieder etwas
dar und wollte dies auch in aller Öffent-
lichkeit in einer neuen Architekturmode
zeigen.
So entstanden in Kitzingens Altstadt –
durch den Abbruch alter Häuser – und
in den ehemaligen Neubaugebieten süd-
lich der Bundesstraße 8 (Moltke-, Wörth-,
Glauber-, Bismarck-, Friedrich-Ebert-, Paul-
Eber-Straße) stattliche Gebäude, die den
neuen Baustil zeigen.
Am Beginn der Friedrich-Ebert-Stra-
ße 4 steht die ehemalige Villa des
Weinhändlers Munk.
Hier kam jeder, der zum neu erbauten
Bahnhof wollte vorbei, hier wurde man
gesehen. Es ist um 1885 ein prachtvoller
Gebäudekomplex im großen Garten ent-
standen (die Castell-Bank steht auch auf
dem Grundstück) mit tiefen Kellern und
Füllhalle – Kitzingen war damals Wein-
handelsstadt.
Das Wohngebäude zeigt die typische
Mischarchitektur des Historismus mit vie-
len Details und Schmuckelementen, ent-
lehnt aus ehemaligen Stilepochen. Der al-
les überragende quadratische Treppenturm
mit seinem steilen Dach, kecker Laterne,
Knauf und Hahn, betont das angehobene
Entrée.
Hinter diesem Anbau liegen, nach Sü-
den ausgerichtet, 2-etagig die Herr-
schaftsräume, deren Wichtigkeit der Er-
ker mit den abgeschrägten Ecken, dem
geschwungenen Kupferdächchen und
dem hochaufsteigenden Neorenaissan-
ce-Giebel unterstreicht. Auffallend sind
die vielen Natursteinarbeiten an Säulen,
Simsen, Eckquaderungen, Voluten, Ge-
wänden, Obelisken und Kugeln.
Der helle Sandstein setzt sich farblich von
den ockerfarbenen Klinkersteinen der Fas-
sadenfläche ab. Französisch orientiert ist
das schiefergedeckte Mansarddach, das
mit seinem steilen Unterdach noch ein
vollwertiges Wohngeschoss für Gäste- und
Bedienstetenzimmer vorhält.
In der straßenseitigen Hainbuchenhecke
versteckt sich ein hohes Gitter aus der
Bauzeit, das in Gefahr ist zu verrosten.
Deshalb sollte die Hecke, mit Abstand zum
Kleine Kitzinger Baustilkunde
Historismus 1830 - 1900
von Dieter Bilz
Gitter (wegen der Belüftung), eingekürzt
werden.
Ähnliche Materialien und Formen
zeigt die Südfassade des vier-
geschossigen Doppelhauses am
Gustav-Adolf-Platz 4 und 5
(Abbildung
siehe Seite 6).
Zwei Risalite flankieren den zurückgesetz-
ten Mittelteil mit dem Giebelfeld über den
Eingängen. Das Sockelgeschoss ist mit Mu-
schelkalkmauerwerk rustikal verkleidet: im
Bereich der Fassadenvorsprünge sind bo-
sierte Quader vermauert, dazwischen ein
sogenanntes Zyklopenmauerwerk.
Die Risalite zieren 4 Balkone auf mächti-
gen Kragsteinen. Steinerne Balusterbrüs-
tungen und darüber in der nächsten Etage
bauchige Eisengeländer wechseln einan-
der ab.
Hoch ragen die beiden Giebel der Haus-
vorsprünge auf, datiert jeweils mit der
Jahreszahl 1898, üppig dekoriert mit
Sandsteinflächen, Simsen und überdach-
ter halbrunder Muschel. Selbst die bei-
den Dachgauben tragen schiefergedeckte
Dreiecksspitzen mit blechernem Knauf. Für
heutigen Geschmack eine mit Architektur-
schmuck überfrachtete Fassade.
In der Mainstockheimer Straße 11
befindet sich die ehemals für die Fa-
milie Kleinschroth (Bierbrauer und
Erläuterungen zu architektonischen Begriffen:
Eckquaderung =
Naturstein, der die Hauskanten betont.
Volute =
schneckenförmiger Zierrat.
Gewände =
steinerne Umrahmungen der Fenster u. Türen in der Gebäudefassade
Mansarddach =
Dach mit 2 unterschiedlichen Dachneigungen, sogenanntes
„gebrochenes Dach“.
Risalite =
flach vorspringender, über die ganz Fassade geführter Bauteil.
Bosierte Quader =
um die Wehrhaftigkeit einer Burg zu verstärken versah man
schon in der Romanik die Steinquader mit Buckeln.
Zyklopenmauerwerk =
Steine , die wie von Riesen aufgesetzt scheinen mit
einem wirren Fugenspiel. Diese „Zierde“ entdeckte man wieder.
Balusterbrüstungen =
Geländer mit steinernen bebauchten Säulchen zwischen
Sockel und Brüstungsstein.
Mezzaningeschoss =
Halbgeschoss, Zwischengeschoss.
Rustizierende Natursteinelemente =
grob behauene Steinquader.
Friedrich-Ebert-Straße 4
Fortsetzung Seite 6
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